Sie verlässt das Zimmer nicht einmal fürs Frühstück. Das Wetter kommt ihrem Zustand zugute. Es stürmt. Sonst wäre es wahrscheinlich schwierig gewesen, auf den Höhepunkt ihrer Reise heute zu verzichten. Sie ahnt es. Für diese Momente im Leben hast du nur eine Gelegenheit. Es gibt keinen zweiten Anlauf. Verpatzt du den ersten, wird sich diese Möglichkeit nie mehr bieten. Alle deine Fasern deines Körpers und deiner Wahrnehmung stellen sich ein auf diesen besonderen Moment. Auf diesen Sturm der Gefühle. Auf etwas, das dir im Leben zuvor noch nie geboten wurde. Sie ahnt es. Es gibt noch einiges, was sie in ihrem Leben einmal erleben möchte. Auf dieser Reise gibt es dieses eine Verlangen. Dieses eine Gefühl, wenn man voll Erwartung dem Siq, einer Felsenschlucht, entlang  sich Windung um Windung dem Treasury nähert, nachdem man die Cowboys hinter sich gelassen hat. Und plötzlich an einer Lichtung aus dem siq tritt und dem Khazne Faraun, dem Treasury gegenübersteht. Vielleicht gibt es öfter als nur einmal das Gefühl der völligen Ohnmacht. Nicht für sie, dachte sie. Einzigartig. Etwas Vergleichbares sucht ihresgleichen.

Sie ist verzaubert von dieser gewaltigen Pracht. Es fällt ihr schwer zu atmen. Sie vergisst sogar, dass habibi sich nur noch sporadisch bei ihr meldet. Ihre Zeit ist um. Sie ahnt es. Er meldet sich kaum noch. Ein Ort, an dem man alles um sich herum vergessen kann. Unbegreiflich. Bald wird er sich wieder hingeben oder bereits hingegeben haben. Er hatte sich auch nie wirklich gelöst von seiner Vergangenheit. Sie wollte sich nie messen. Er sollte der Mann ihres Lebens werden.

Kaum in Worte zu fassen. Stundenlang sitzt sie auf einer der Bänke gegenüber des Treasurys. Fast bewusstlos. Überwältigt. Stehst du einmal dem Treasury gegenüber, wirst du es im Leben nicht mehr vergessen. Was für ein Moment, der viele Momente andauert! Einmal hier sitzend, übersteht man all die Herausforderungen dieses kleinen unbedeutenden Lebens. Man versuche mal, sich das Ausmass der Arbeit vorzustellen, die Fassaden aus dem Stein herauszuarbeiten. Die Höhlen auszuhöhlen. Haben sie Sklaven dafür eingesetzt? Und das Glück, dass der Stein ein grosses Geheimnis in sich trägt.  Natürlich weiss sie um Glanzleistungen anderer Kulturen. Auf dieser Reise eben Petra. Vieles hat sie bereits beeindruckt. Sie wird auch nicht Istanbul, Aleppo, Damascus, Beirut, Amman vergessen. Never. Und all die Orte dazwischen. Doch Petra …

Am nächten Tag hat sie Glück. Kaum Touristen. Das Wetter ist wie gemacht für diese erste Begegnung. Es ist bereits Ende November. Dienstags und donnerstags laufen die Touristen der Kreuzfahrtschiffe mit über 20 Bussen aus Aqaba ein. An Montagen, Mittwochen, Freitagen, Samstagen, Sonntagen sind Taxifahrer besonders auf ‚ansässige’ Touristen aus. Es ist Samstag.

Der Tag beginnt verheissungsvoll. Ein gelber Skorpion hat es sich gemütlich in einem ihrer Schuhe eingerichtet.